Bärbel Ackermann
Theosophie ist jenes Meer des Wissens, das sich von Küste zu Küste der Evolution aller fühlenden Wesen ausbreitet. Unergründlich in seinen tiefsten Teilen, gibt es den mächtigsten Gemütern ihre vollste Entfaltungsmöglichkeit und ist dennoch an seinen Küsten flach genug, um den Verstand eines Kindes nicht zu überwältigen.
William Q. Judge: Das Meer der Theosophie. Hannover, 2010, S. 25
Gemäß Blavatsky ist Theosophie kein von Menschen erfundener oder formulierter Glaube und kein Dogma. Sie ist die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten, die die physischen, astralen, psychischen und intellektuellen Vorgänge in der Natur sowie die Evolution des Menschen leiten. Daher ist sie in sich selbst vollständig und sieht nirgends ein unlösbares Geheimnis; sie streicht das Wort „Zufall“ aus ihrem Wörterbuch und erkennt das Prinzip von Ursache und Wirkung im täglichen Leben und in der gesamten Natur.
Zu keiner Zeit beschränkte sich die Theosophie daher auf einen Gott im Sinne eines allmächtigen alleinigen Schöpfers. Theosophie ist weder christlich orientiert noch buddhistisch oder hinduistisch, noch kann sie mit anderen religiösen Richtungen in Verbindung gebracht werden. Sie ist Religion an sich, nach Cicero: „gewissenhaftes Beobachten“. Demzufolge beinhaltet Theosophie ein intensives „Naturstudium“. Dabei kommt dem hierarchischen Aufbau und der Zusammengesetztheit allen Seins eine fundamentale Bedeutung zu, die sich wie ein roter Faden durch Blavatskys Werke zieht. Ohne ein Verstehen dieser beiden grundsätzlichen Naturprinzipien, die sowohl kosmisch als auch irdisch auf den Menschen anwendbar sind, ist es nicht möglich, hinter die Schleier der Natur zu gelangen.
Das Wort „Theosophie“ stammt aus dem Griechischen und ist zusammengesetzt aus theos, „göttliches Wesen“, und sophia, „Weisheit“. Im Lexikon der Geheimlehren bezeichnet Blavatsky „Theosophie“ als „göttliche Weisheit“ oder „Weisheit der Götter“. Hieraus ist deutlich erkennbar, dass Theosophie nachdrücklichst nicht das religiöse System eines Gottes ist.
Von Purucker, Präsident der Theosophischen Gesellschaft in den USA von 1929 bis 1942, gibt den Begriff „Theosophie“ wie folgt wieder:
Die Theosophie ist keine Vermischung von Philosophie, Religion und Wissenschaft. Sie ist kein Gedanken- oder Glaubenssystem, das stückweise zusammengesetzt wurde und aus Teilen oder Bruchstücken besteht, die irgendein großer Geist von anderen, sich unterscheidenden Religionen oder Philosophien übernommen hat. Dieser Gedanke ist nicht richtig. Im Gegenteil, die Theosophie ist das System oder die systematische Formulierung jener Tatsachen, die der sichtbaren und unsichtbaren Natur zugrunde liegen, und sie findet durch den erleuchteten menschlichen Verstand ihren Ausdruck in den scheinbar separaten Zweigen der Wissenschaft, Philosophie und Religion. Die Theosophie kann ebenso auch als jenes System erklärt werden, das in menschlicher Sprache die Natur, die Struktur, den Ursprung, die Bestimmung und die Tätigkeiten des kosmischen Universums und der Scharen von Wesenheiten beschreibt, die es erfüllen.
Theosophie gibt eine zutiefst befriedigende Erklärung auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie kann mit Recht auch Philosophie genannt werden, denn sie liefert dem Verstand Erklärungen für die mannigfaltigen Erscheinungen des Lebens, die wir um uns herum beobachten können. Sie umfasst das Wissen über die ineinandergreifenden ursächlichen Lebenszusammenhänge auf allen Ebenen kosmischen Seins. Ebenso ist sie Wissenschaft, die auf jedes Phänomen der physischen Welt angewandt werden kann. Sie ist die Grundlage für universale Ethik und beinhaltet die Ausübung von Pflichten gegenüber Mensch und Natur.
Nahezu alle großen Weltreligionen und -philosophien weisen entsprechende Gemeinsamkeiten auf. Die Neuplatoniker zum Beispiel, die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung das platonische Denken noch einmal zur Blüte brachten, nannten sich unter anderem auch Theosophen. Gleiches gilt für die mittelalterlichen Alchimisten, die in vieler Hinsicht die Vorläufer unserer heutigen Naturwissenschaftler waren, sowie für große mittelalterliche Denker wie Giordano Bruno, Jakob Böhme oder Louis Claude de Saint-Martin.
Die Weisheit bleibt immer dieselbe. Sie birgt das Letzte, was menschlicher Erkenntnis zugänglich ist, und daher wurde sie stets sorgfältig gehütet. Sie bestand schon lange vor der Alexandrinischen Schule und besteht heute noch.
Theosophie ist also kein neues System. Sie ist so alt wie die Menschheit. Ihre Lehren und ihre Ethik wurden zu allen Zeiten verbreitet.
Ziel der Theosophischen Gesellschaft ist es, die fundamentalen Grundprinzipien und Gesetzmäßigkeiten, die der Natur zugrunde liegen, in Wissenschaft, Forschung und Gesellschaft zu etablieren.
Dazu gehören:
• Die Vernetztheit von Mensch und Natur
• Bewusstsein, Geist und Intelligenz – Grundlage aller Manifestation
• Die innere Natur des Menschen
• Hierarchien – die Struktur der universalen Natur
• Zyklen – verborgene Rhythmen des Lebens
• Geburt und Wiedergeburt – ewiges Werden
• Ursache und Wirkung – karmisches Gesetz
• Gedanken – die stärksten in Anwendung gebrachten Kräfte
• Ethik – Grundprinzip der Natur
• Geistige Evolution versus Transformation der Formen
• Die Realität immaterieller Daseinsbereiche
• Leben – nicht das Zufallsprodukt unbelebter Materie
• Alles lebt – es gibt nichts Totes
• Unendlichkeit des Seins
Theosophie gründet sich auf die Grundprinzipien und die Wirkungsweisen der Natur. Sie finden ihren Ausdruck in den Erkenntnissen und Erfahrungen der großen Weisen des Menschengeschlechts, die der Menschheit in ihrer Evolution bereits weit vorausgegangen sind. Sie berücksichtigen die drei großen Denkrichtungen: Wissenschaft, Philosophie und Religion.
In Die Geheimlehre stellt Blavatsky drei fundamentale Sätze auf, auf denen die Theosophie beruht. Sie postuliert:
1. Ein allgegenwärtiges, ewiges, grenzenloses und unveränderliches PRINZIP, über das gar keine Spekulation möglich ist, da es die Kraft menschlicher Vorstellung übersteigt und durch irgendwelche menschliche Ausdrucksweise oder Vergleich nur erniedrigt werden könnte. […]
2. Die Ewigkeit des Weltalls in toto als einer grenzenlosen Sphäre, die periodisch „der Spielplatz ist von zahllosen unaufhörlich erscheinenden und verschwindenden Universen“, den sogenannten „manifestierenden Sternen“ und „den Funken der Ewigkeit‘“ […]
3. Die fundamentale Identität aller Seelen mit der universellen Oberseele, welch Letztere selbst ein Aspekt der unbekannten Wurzel ist; und die Verpflichtung für jede Seele – einen Funken der vorgenannten –, den Zyklus von Inkarnation oder ‚Notwendigkeit‘ in Übereinstimmung mit zyklischem und karmischem Gesetz während seiner ganzen Dauer zu durchwandern.
Nie sage: Ich weiß es nicht – also ist es falsch.
Man muss forschen, um zu wissen,
wissen, um zu verstehen,
verstehen, um zu urteilen.
Kosmologie und Anthropologie basieren auf fundamentalen Prinzipien der sowohl physischen als auch metaphysischen Natur. In dem anfang- und endlosen Universum ist alles Existierende, jede Wesenheit, in seiner fundamentalen Essenz mit dem kosmischen Bewusstsein verwandt und wird von ihm in allen seinen Teilen belebt und beseelt. Damit sind alle Lebewesen in einer unauflösbaren Universalen Bruderschaft miteinander verbunden.
In Perioden zyklischer Wiederkehr manifestieren sich die evolvierenden Seelen in Leben um Leben in ihrer Mannigfaltigkeit, indem sie für jeden Daseinsbereich einen ihrem Evolutionsstadium entsprechenden Körper aufbauen. Sie folgen so dem Pfad der Evolution und entfalten ihre inhärenten Kräfte. Ein Ende oder Vollkommenheit erreichen sie dabei jeweils nur innerhalb einer Hierarchie.
Da jede Hierarchie wiederum von geringeren Hierarchien oder Lebenswelten aufgebaut wird, existieren Hierarchien innerhalb von Hierarchien und Welten innerhalb von Welten, deren Zyklen wie Räder innerhalb von Rädern ineinandergreifen. Alles bedingt und belebt sich in einem steten Miteinander und bildet letztlich eine unauflösbare lebende Einheit, die sich in vielfältiger Verschiedenheit manifestiert, denn es gibt nichts Totes. Alles ist in einem steten Fließen und verändert sich kontinuierlich. Es gibt keinen Stillstand. Bewegung und Veränderung aber bedeuten Leben und sind bedingt durch ein in allen seinen Teilen von Bewusstsein durchdrungenes lebendiges Universum. Alles lebt und evolviert in und mit ihm und prägt als ein aktiv gestaltender Teil des Ganzen die Evolution des großen kosmischen Geschehens mit.
Durch das Gesetz von Karman wird jedes Lebewesen, jedes Individuum, immer wieder dorthin zurückkehren, wo seine in einem früheren Leben gelegten karmischen Saaten zur Entfaltung gelangen können. Es wird unweigerlich mit seinen eigenen karmischen Impulsen wieder konfrontiert. Karman ist somit das Prinzip und Gesetz der unbedingten Gerechtigkeit. Die Zwillingslehre von Karman ist die Reinkarnation, die Wiederverkörperung. Gemeinsam erklären die beiden Grundprinzipien der Natur die Notwendigkeit der zyklischen Rückkehr eines jeden Individuums in die Manifestation und beschreiben die Wanderung der Lebensatome.
Der Mensch ist ein integraler Teil des Universums, ein Mikrokosmos im Makrokosmos. Er spiegelt alle fundamentalen Prinzipien des Universums wider. So wie das Universum eine 7-, 10- oder 12-fältige Struktur aufweist, ist auch die menschliche Konstitution 7-, 10- oder 12-fältig. Sie besteht aus sterblichen, bedingt sterblichen und unsterblichen Substanz-Prinzipien. Der bedingt sterbliche Teil, die menschliche Seele, ist der eigentliche evolvierende Mensch und enthält den reinkarnierenden Teil. Im Laufe seiner äonenlangen Entwicklung hat der Mensch infolge der Erweckung durch seine weitaus höher evolvierten Vorfahren relatives Selbstbewusstsein erlangt. Er kann frei entscheiden, ob er dem niederen, sterblichen Teil seiner dualen Natur folgen möchte oder ob er bereit ist, seinem höheren, unsterblichen Teil zuzustreben.
Blavatsky schreibt:
Den wenigen hochstehenden Geistern, die die Natur befragen, anstatt ihr Vorschriften zu machen, wie sie führen soll, die ihren Möglichkeiten nicht durch die Unvollkommenheit ihrer eigenen Kräfte Schranken setzen, die nur misstrauen, weil sie nicht wissen – diesen wollen wir den Kernspruch Nâradas, des alten Hinduphilosophen, ins Gedächtnis rufen, der da lautet:
„Nie sage: Ich weiß es nicht – also ist es falsch.
Man muss forschen, um zu wissen,
wissen, um zu verstehen,
verstehen, um zu urteilen.“
Zusammenstellung verschiedener Schriften, redaktionelle Bearbeitung Bärbel Ackermann