Hermann Knoblauch
Die heutige allgemeine Auffassung ist die, dass zwischen Geist und Seele kaum ein besonderer Unterschied besteht, sodass mehr die Zweiheit, also die Seele und der Körper, Beachtung findet. Hierbei wird von der Möglichkeit gesprochen, dass die Seele während des Sterbevorganges den Menschen verlässt, der Mensch also eine Seele besitzt. Die Theosophie hingegen lehrt, dass der Mensch diese Seele ist, einen Körper für eine Inkarnation bewohnt und wie alle Wesenheiten einem geistigen Ursprung entstammt. In diesem Ursprung, der „einen universalen Ursache“, liegt die Quelle aller bestehenden Wesenheiten. Ihr entstammt auch der Mensch als ein geistiges Wesen, das sich durch eine äonenlange Entwicklung durch einen Körper manifestiert. Dieses geistige Wesen, gemäß der christlichen Einteilung des Paulus der „Geist“, muss über ein Mittel oder Instrument verfügen, durch das es in einem Körper wirken kann, ähnlich wie Elektrizität durch Transformatoren umgeformt wird, um in einer elektrischen Glühbirne das Leuchten hervorbringen zu können.
Der Transformator, der die geistige Energie in die Lage versetzt, im Körper wirksam zu sein, wird in Bezug auf den Menschen von Paulus die Seele genannt, und wenn der Mensch als Wesenheit zwischen den beiden Polen Geist und Materie gesehen wird, kann die Seele als das Kettenglied zwischen Geist und Körper betrachtet werden. Sie ist die „Psyche“ der Griechen, die dem „Nous“ (dem Geistigen) die Möglichkeit gibt, sich durch einen Körper zum Ausdruck zu bringen.
Hiermit ist nicht gesagt, dass der Mensch in dem heutigen Stadium seiner Entwicklung die geistige Kraft tatsächlich voll zur Manifestation bringt, denn seine Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen. Sobald wir uns eine Vorstellung davon machen, wie ein geistig-göttliches Wesen handelt, wird erkennbar, dass der Mensch in seinem derzeitigen Entwicklungsstadium dieser Anforderung nicht gerecht wird. Die Ursache hiervon liegt darin, dass das menschliche Bewusstsein hauptsächlich in der psychischen Natur – dem Kettenglied – konzentriert ist. Da es im gegenwärtigen Entwicklungsstadium vorwiegend auf die materielle Seite der Natur gerichtet ist, formt es nur ein sehr unvollkommen durchlässiges Element für den Strom geistiger Energie, sodass ein geistiger Einstrom nur in einem sehr geringen Maß erfolgen kann. Die vorwiegende Lenkung unseres Bewusstseins auf das Persönliche hemmt oder verhindert daher die Wirksamkeit unserer essenziellen Individualität, des geistigen Einstroms in unsere derzeitige Verkörperung.
Um die Wirksamkeit und die Möglichkeiten unseres Bewusstseins besser verstehen zu können, ist eine tiefere und genauere Kenntnis der sieben Prinzipien des Menschen von unschätzbarem Wert. Doch warum sieben Prinzipien und nicht fünf oder zehn? Weil überall in der Natur der siebenfältige Aufbau erkannt werden kann: es gibt sieben Regenbogenfarben, sieben Töne der Tonleiter, sieben Atomschalen, um nur einige bisher bekannte Beispiele zu nennen.
Die Lehren über die Siebenfältigkeit des Menschen sind der ursprünglichen Theosophie und zum Teil der östlichen Tradition entnommen. Die ihr eigenen Sanskṛitausdrücke geben sehr genau die Bedeutung der einzelnen Prinzipien an. Sie wurden aus dem Grunde übernommen, weil europäische Sprachen keine Worte mit ihnen entsprechender Bedeutung haben, es ist also lediglich eine Umschreibung möglich. Ein eingehendes Studium dieser Sanskṛitausdrücke ist daher von besonderem Wert. Die Ausdrücke lauten folgendermaßen:
1. Âman – Geist
2. Buddhi – Träger des Geistigen, Intuition
3. Manas – Denkvermögen, Gemüt, Intellekt
4. Kâma – Wünsche und Begierden, Wille
5. Prâṇa – Lebensprinzip, Vitalität
6. Liṅga-śarîra – Astralkörper, Modell und Schutzhülle
7. Sthula-śarîra – physischer Körper
Das höchste Prinzip, Âtman, ist von universalem Charakter und kann als jenes Kettenglied betrachtet werden, das die Prinzipien mit dem Herzen des Universums, dem geistig-universalen Ursprung, verbindet. Das zweite Prinzip, Buddhi, übermittelt spirituelles Bewusstsein, die Erkenntniskraft, die höchste Kraft des Verstehens. Zu aktiver Wirksamkeit gebracht, ist es das Prinzip, das hoch evolvierte Menschen zu Genies oder Buddhas macht. Das dritte Prinzip, Manas, ist das eigentlich menschliche Prinzip, das Denken. Es ist auf unserer derzeitigen Evolutionsstufe jedoch erst teilweise zur Wirksamkeit gekommen. Kâma bedeutet so viel wie Wunsch oder Begierde, die treibende Kraft, die an sich farblos ist, weder gut noch schlecht. Sein Charakter richtet sich beim Menschen nach der Art, wie das Denkvermögen (Manas) die Richtung angibt. Das fünfte Prinzip, Prâṇa, bezeichnet die Lebenskraft, die Vitalität, hier als allgemeiner Ausdruck benutzt. Das sechste Prinzip, Liṅga-śarîra, ist der Astral- oder Modellkörper. Er ist das Muster oder das Modell, nach dem das Sthula-śarîra – der physische Körper – aufgebaut wird. Die astrale Substanz unterscheidet sich in nur verhältnismäßig geringem Maß von der physischen Materie, und weil ein stofflicher Körper ohne das astrale Modell nicht existieren kann, bilden diese beiden Prinzipien zusammen die körperliche Seite der menschlichen Konstitution.
Eine leichter verständliche zweifache Einteilung der sieben Prinzipien ist die folgende:
Gemäß der Einteilung des Paulus in Körper, Seele und Geist ergibt sich die Dreiteilung in:
Bei der Dreiteilung fällt sofort auf, dass das Denkvermögen als eine Funktion des Geistes wie auch der Seele betrachtet wird, während bei der zweifachen Unterteilung das Denkvermögen dem Höheren Selbst zugeschrieben wird. Dies ist einer der bedeutendsten Schlüssel für das Studium des menschlichen Bewusstseins und für die Beurteilung des menschlichen Denkens und Handelns.
Jedes der Prinzipien ist, für sich genommen, wiederum zweifältig oder dual und hat daher seine höheren und seine niederen Aspekte. Bei Manas, dem Denkvermögen oder Gemüt, muss auf diese Tatsache jedoch besonderer Nachdruck gelegt werden, weil der Mensch mit diesem Prinzip ein Instrument besitzt, das für seine Willensäußerungen bestimmend ist und das ihn deutlich von den niederen Reichen der Natur unterscheidet. Das Prinzip Manas wird daher in das höhere und das niedere Manas unterteilt.
Die Siebenfältigkeit der menschlichen Natur gibt eine verständliche Erklärung für die verschiedenartigen und zum Teil sich widerstreitenden Gefühle, denen wir unterworfen sind. Sie bringt die Erkenntnis darüber, welche Prinzipien und Kräfte in unseren Gedanken und Handlungen vorherrschen, wenn wir „außer uns“ sind oder wenn wir „uns selbst vergessen“. Hegen wir Gedanken oder verrichten wir Handlungen, über die wir im Nachhinein selbst verwundert sind, sodass wir uns dann fragen, wie es dazu kam, dann zeigt diese Aufstellung, dass alle Möglichkeiten in der Charakteristik der Prinzipien, also in uns selbst, vorhanden sind. Verliert unser kontrollierendes Bewusstsein zeitweilig die Herrschaft über die niederen Aspekte der Prinzipien, so übernehmen diese die Rolle des Meisters anstelle der ihnen gebührenden Rolle des Dieners.
Die hierin enthaltene, äußerst wichtige Erkenntnis ist die, dass wir erst dann relativ vollkommene Menschen im Sinne von „Menschsein“ sind, wenn sich unser spiritueller Teil in aktiver Tätigkeit befindet. Das Ziel unseres Lebens sollte es daher sein, das spirituelle Bewusstsein mehr und mehr zum Ausdruck zu bringen, in ständig wachsendem Maße in den höheren, edleren Aspekten unserer Natur zu leben. Damit bilden wir zugleich einen Gegenpol zu der gewaltgeschwängerten Atmosphäre, die uns weltweit umgibt, und wir haben die beste Richtschnur für die Praxis des täglichen Lebens.
Aus: Verborgenes Wissen – Die Einheit von Mensch und Natur.