Sanskrit –
oder: Wie ich lernte, alte Lehren zu lieben

Matthias Winter

Das indische Sanskrit gilt als eine der ältesten Gelehrtensprachen der Welt, edel, geheimnisvoll und tief. Was kann ein solches Sprachfossil uns heute noch vermitteln? Welche Gedanken stecken darin? Und kann ich mich einer solchen Sprache tatsächlich nähern?  Ein Selbstversuch.

„Wenn du wirklich Sanskrit lernen willst“, so riet mir ein guter Freund und drückte mir einen dicken Wälzer in die Hand, „dann brauchst du dieses Buch, dann unbedingt diese englische Einführung, auf jeden Fall folgendes Wörterbuch, dann noch das und das und …“. Mit gefühlt einer halben Tonne Literatur verließ ich seine Wohnung, rätselnd, ob das wirklich alles erforderlich ist und ob ich das wirklich noch wollte.

Wie kann ich mich einer Sprache nähern, die zu den ältesten der Welt zählt, die prosaisch die „Sprache der Götter“ genannt wird? Was ich zu Beginn meiner „Sprachreise“ noch nicht wusste: Es würde eine Reise zu den Wurzeln unserer Kultur werden, und es würden sich Türen öffnen zu den Geheimnissen meines eigenen Seins. Doch der Reihe nach.

Mein Anspruch war nicht, Sanskrit wirklich wie eine Fremdsprache zu lernen, in der ich gar Konversation betreiben könnte. Wenn ich mich mit moderner Naturwissenschaft beschäftige, brauche ich dazu auch kein kleines oder großes Latinum. Doch die Kenntnis lateinischer oder griechischer Wort-Wurzeln erleichtert ein Studium z. B. der Geologie oder Biologie. Oder anders ausgedrückt: Ohne Fachvokabular geht es nicht. Präzise Beschreibungen setzen präzise Gedanken voraus, und dafür brauche ich eine präzise Sprache.

Kaum zu glauben, doch etliche Begriffe aus dem Sanskrit haben es sogar bis in unsere Alltagssprache geschafft, zum Beispiel Kajal, Karma oder Avatar. Gut, Kajal kenne ich aus dem Schminkkästchen meiner Frau, auch Karma ist als das Gesetz von Ursache und Wirkung hinlänglich bekannt. Doch ist, um bei diesen Beispielen zu bleiben, ein Avatar wirklich das, was ich bisher dachte, also ein „Bildchen“ einer Person in Computerspielen oder Chats? Einem breiten Publikum ist der Begriff Avatar bekannt geworden durch James Camerons erfolgreichen gleichnamigen Science-Fiction-Film. Also, was steckt ursprünglich dahinter?

Manuskriptseiten aus dem Rigveda, verfasst in vedischem Sanskrit, geschrieben in Devanâgarî. Indien, frühes 19. Jh.

Manuskriptseiten aus dem Rigveda, verfasst in vedischem Sanskrit, geschrieben in Devanâgarî. Indien, frühes 19. Jh. (Bild: Wikipedia)

Schatztruhe Sanskrit

Viele Schätze archaischer Weisheit wurden in der Sanskrit-Sprache verfasst: Die Veden, die Purânas, die Upanishaden, das Râmâyana und das Mahâbhârata, die großen Epen Indiens.

Von den vielen größtenteils linguistisch orientierten Büchern über Sanskrit ist mir eines besonders aufgefallen, und zwar Die Sprache der Götter – Sanskrit als Schlüssel zu den Mysterienlehren von Judith M. Tyberg. Das war schon eher nach meinem Geschmack, eine Mischung aus spirituell-sprachhistorischer Einführung und Sanskrit-Lehrbuch. In dessen Mittelpunkt steht nicht wie üblich das reine Sprachenlernen, sondern die in und hinter den Worten verborgenen Ideen. Sanskrit ist eine wahre Fundgrube an philosophischen und religiösen Ausdrücken. Sie enthält Worte, die von den inneren Mysterien der Seele und des Geistes handeln, von nachtodlichen Zuständen, vom Ursprung und Schicksal von Welten und Menschen.

Ich finde es faszinierend, dass es Sprachen gibt, die viel besser als andere in der Lage sind, tiefe, spirituelle Gedanken auszudrücken, dass es überhaupt möglich ist, mit einem Wort, einem Begriff, einer Ansammlung von Linien, Bögen, Punkten, ein ganzes Gedankengebäude zu errichten. Und woher stammt Sanskrit?

Götter?

Sanskrit wird die „Sprache der Götter“ genannt. Was oder wer ist mit „Göttern“ gemeint? – Die vorchristlichen Götterlehren bauten auf einer spirituellen Weisheit auf, die unter dem Gewand volkstümlicher Mythologie tiefe Geheimnisse über den Bau und die Tätigkeit des uns umgebenden Universums umfasste. Sie glaubten an „Götter“, an Wesen, die wesentlich weiter entwickelt sind und daher höher stehen als wir Menschen. Sie schilderten, dass wir Menschen, als „Kinder“ dieser Götter, unserem inneren Wesen nach „göttliche“ Wesen sind, für immer verbunden mit dem grenzenlosen Universum, von dem wir und auch alle anderen Wesen ein untrennbarer Teil sind.

Der Ursprung des Sanskrit

Sanskrit war ursprünglich die Sprache der Gelehrten Indiens, der Brahmanen und Philosophen, eine heilige Sprache für besondere Zwecke. Sie wurde ausschließlich in den Tempeln und Mysterienschulen gesprochen. Mit der Kolonialisierung Indiens durch England änderte sich das rapide. Ohne jegliche Kenntnis des spirituellen Erbes der Inder begannen westliche Forscher die „Sprache der Götter“ als ein linguistisches System nach westlicher wissenschaftlicher Vorstellung zu analysieren. Einst eine heilige Sprache, wurde Sanskrit ein fester Bestandteil der damals neu entstandenen Indologie an den Universitäten weltweit, bis heute. Im heutigen Indien selbst hat Sanskrit seit seiner Unabhängigkeit einen neuen Stellenwert erhalten: In dem Prozess der Revitalisierung seines spirituellen und kulturellen Erbes wird Sanskrit heute sowohl an Schulen als auch an Universitäten gelehrt und wird zunehmend als Alltagssprache integriert – angereichert mit modernen Begriffen. Inzwischen geben ca. 15.000 Inder Sanskrit als ihre Muttersprache an.

Sanskrit und die damit verbundene Devanâgarî-Schrift (dazu später mehr) sind abgeleitet vom Senzar, einer sehr alten, geheimen und nahezu unbekannten Mysteriensprache. Senzar war die Sprache, in der die Altvorderen ihre geheimen Werke niederschrieben und bewahrten, in alten Zeiten eine universale Gelehrtensprache. Senzar war der direkte Vorläufer des vedischen Sanskrit, der Sprache, die in den heiligen Tempeln gesprochen wurde.

Eine Strophe aus dem „Buche des Dzyan“, einem uralten Senzar-Text, von Helena Petrowna Blavatsky in westliches Denken übertragen und 1888 veröffentlicht in ihrem Werk Die Geheimlehre.

Eine Strophe aus dem „Buche des Dzyan“, einem uralten Senzar-Text, von Helena Petrowna Blavatsky in westliches Denken übertragen und 1888 veröffentlicht in ihrem Werk Die Geheimlehre.

Viele, die sich heute mit philosophischen Lehren beschäftigen, hatten schon Kontakt mit Senzar, ohne es vielleicht zu wissen. Denn Helena Petrowna Blavatskys Klassiker Die Geheimlehre gibt einige Fragmente aus dem „Buch des Dzyan“ wieder, einer uralten Textsammlung, verfasst in Senzar.

Sanskrit, diese Sprache, die von den weisesten Gemütern des vorgeschichtlichen Indien entwickelt und ausgearbeitet wurde, erhielt schließlich den Namen Samskrita, „vollendet“. Vollendet deshalb, weil sie vervollkommnet wurde, um tiefe philosophisch-wissenschaftlich-religiöse Gedanken ausdrücken zu können, subtilere Unterscheidungen und präzisere Benennungen als für den Alltagsgebrauch erforderlich.

Das Sanskrit gehört zur großen indogermanischen oder indoeuropäischen Sprachfamilie, der auch das Deutsche angehört. Besonders erstaunt hat mich, dass beide Sprachen einige Gemeinsamkeiten haben. So sind beide stark „flektierend“. Damit meinen die Linguisten Sprachen, die stark „beugen“, d. h. ein Wort in seinen grammatischen Formen abwandeln – was eine große Freiheit beim Satzbau und in der Wortbildung ermöglicht.

Sanskrit ist eine Sprache – wurde also folglich gesprochen. Sie diente der mündlichen Überlieferung der Weisheitslehren in den altindischen Mysterienschulen. Der spirituelle Lehrer (sansk. Guru) unterwies den Schüler (sansk. Lanu). Diese Lehren galten als besonders vertraulich, daher kam nur eine mündliche Überlieferung infrage, und das auch nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Doch die Zeiten änderten sich, vormals geheime Lehren wurden Allgemeingut und später aufgeschrieben. Heute ist Sanskrit hauptsächlich von den geschriebenen Werken bekannt.

Das Wort „Samskrita“ (Sanskrit), geschrieben in Devanâgarî

Das Wort „Samskrita“ (Sanskrit), geschrieben in Devanâgarî

Das Devanâgarî-Alphabet besteht aus 49 Zeichen

Das Devanâgarî-Alphabet besteht aus 49 Zeichen

Devanâgarî, eine Schriftform des Sanskrit

Als wichtigste Schriftform des Sanskrit gilt die Devanâgarî. Das sanskritische Devanâgarî-Alphabet besteht aus fast fünfzig Buchstaben. Nicht leicht, mir vorzustellen, wie die auf unsere knapp dreißig Buchstaben im Deutschen übersetzt werden können. Wie schnell kann es da zu „Rechtschreibfehlern“ kommen. Vergesse ich beim Wort „Râja“ (mit langem a) für „König“ das Zeichen „^“, so wird daraus „Raja“ (mit kurzem a) – „Staub“!

In „Devanâgarî“ steckt das Wort „Deva“ für „Gott“ oder „Götter“, „Devanâgarî“ kann daher gedeutet werden als „göttliche Stadt“ oder „Tempel“, als „göttliche Stadt-Schrift“. Devanâgarî wurde für so heilig gehalten, dass es den Brahmanen unter Androhung drakonischer Strafen nicht erlaubt war, sie vor westlichen Ohren zu erwähnen, und erst recht nicht, die Existenz ihrer geheimen Tempel-Bibliotheken bekannt zu geben. Die Devanâgarî ist also eher die „Rede der Götter“, und Sanskrit ist die „göttliche Sprache“.

Auch andere indische Sprachen wie Hindi und Marathi benutzen übrigens das Devanâgarî-Schriftsystem. Anfangs verwirrte mich das ein wenig. Wie kommt es, dass eine Sprache nicht direkt mit einer Schrift verbunden ist? Doch dann bemerkte ich, dass wir ja heute noch ähnliche Situationen kennen. So verwenden Deutsch, Englisch, Spanisch und viele weitere Sprachen lateinische Buchstaben – viele Sprachen, gleiche Schriftform. Und umgekehrt wird in einem Land wie Japan zwar japanisch gesprochen, doch zum Aufschreiben gibt es dort sogar drei Schriftsysteme: Kanji, Hiragana und Katagana. Klingt für uns kompliziert, für Japaner ist es normal.

Devanâgarî schreiben? Natürlich gibt es auch Lehrbücher, die einem das Schreiben der Devanâgarî-Schriftzeichen und -Wörter näherbringen. Selbst auf Youtube gibt es reichlich Lektionen. Ich dachte, einen Versuch ist es wert. Ich übe und übe, mein Handgelenk verlangt mahnend nach einer Pause. Es ist wirklich eine arge Friemelei, nichts für Grobmotoriker. Warum tue ich mir das an? Ja richtig, weil ich unbedingt mal eine „neue“ Sprache lernen wollte … Doch ich muss ehrlich bleiben, über ein paar bescheidene Versuche bin ich noch nicht hinausgekommen. Meine Motivation war ja auch eine andere: Die Aussagen der „Weisheit der Zeitalter“ besser zu verstehen.

Manuskriptseiten aus dem Rigveda, verfasst in vedischem Sanskrit, geschrieben in Devanâgarî. Indien, frühes 19. Jh.

Prof. Dr. Gottfried von Purucker, 1874 – 1942, Professor für archaische Wissenschaften, USA, gilt als intimer Kenner der zeitalteralten Geheimlehren, zu deren Quellen er direkten Zugang hatte. Als Sanskritgelehrter erlangte er internationalen Ruf. Außergewöhnliche Sprachkenntnisse ermöglichten ihm ein umfassendes Studium der alten Philosophien und Religionen in ihren Originalsprachen.

„Avatar“?

Kommen wir zurück zum „Avatar“. Wer mir bis hierher gefolgt ist, wird schon ahnen, dass dieser Begriff in seiner westlichen Verwendung wohl wenig mit dem Ursprungsgedanken zu tun hat. Doch wie kann ich seine wahre Bedeutung erforschen? Am besten wäre es, ich könnte jemanden konsultieren, der sich damit auskennt.

Eine wirklich geniale Hilfe hierbei sind mir die Grundlagen der Esoterischen Philosophie von Gottfried von Purucker. Als Professor für archaische Wissenschaften, Sprachwissenschaftler und Sanskritgelehrter von internationalem Ruf lebte von Purucker bis in die vierziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts. Auf gut 600 Seiten vermittelt er in diesem Buch die Grundzüge der Weisheit der Zeitalter. Dabei verwendet er, und das überrascht mich mittlerweile nicht mehr, viele Begriffe aus dem Sanskrit. Keine leichte Kost, aber die Mühe lohnt sich. Denn inzwischen ist mir klar geworden, dass die Anstrengung, die ich in das Verständnis der Sanskrit-Ausdrücke und ihrer Bedeutung investiere, sich durch größere Erkenntnisse tausendfach bezahlt machen wird. Wäre schön, wenn ich dadurch wenigstens etwas mehr fähig würde, den Weisheitsschatz der „Götter“ tiefer zu ergründen.

Und was hat es nun mit dem „Avatar“ auf sich, was sagt von Purucker dazu? „Das Wort Avatâra bedeutet“, so schreibt er sinngemäß im Wörterbuch „Esoterische Philosophie“, „das Herabkommen einer himmlischen Energie, wofür ebenso gut gesagt werden kann: das Herabkommen eines göttlichen Wesens, um einen Menschen zu erleuchten. Ein Avatâra hat daher eine Kombination von drei Elementen in sich: eine inspirierende Gottheit; eine hochentwickelte Seele, die ihm geliehen ist und die der Kanal für jene inspirierende Gottheit ist; und einen physischen Körper.“

Donnerwetter! Das ist doch etwas ganz anderes, als ich bisher dachte und hat fast nichts mit dem Hollywood-Streifen oder dem Gebrauch in Computerspielen zu tun. Mit diesem Wort werde ich in Zukunft wohl sorgsamer umgehen. Jedenfalls werde ich nun häufiger Begriffe hinterfragen.

Die „göttliche Sprache“ unseres Inneren

Zu glauben, „Götter“ würden sich mit uns in einer Sprache in unserem Sinne „unterhalten“, wäre natürlich banal. Das ist mit der „Sprache der Götter“ sicher auch nicht gemeint.

Es gibt jedoch eine „göttliche“ Sprache, die wir verstehen können, wenn wir nur wollten: die unseres eigenen Inneren. Es spricht mit der Stimme der Intuition zu uns, die wir hören und verstehen können, wenn wir unsere Ohren dafür öffnen. Wie bei einer gewöhnlichen Sprache, so ist es auch hier: zum Verständnis brauchen wir Übersetzungshilfen. Die liefert in hervorragender Weise die Theosophie, die überlieferte Weisheit der Zeitalter. Versuchen Sie’s!

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